Leseprobe.

Blossoming Flowers

The structural intricacies of flowers
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Forest Mushrooms

The shapes, colors and scents of mushrooms
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Leseprobe 1 Das Schiff – Anna S. 173 Als Anna am nächsten Morgen ins Dorf zurückkam, war sie erstaunt, so viele Menschen auf der Straße zu sehen. Sie bemühte sich, zu lächeln und zu grüßen.

Nuka klärte sie auf. „Das Schiff kommt!“ „So schnell?“ Sie war überrascht.

„Wenig Eis, der Kapitän ist gut durchgekommen“, sagte Nuka.

Ein neues Gewehr, ein neues Fenster, ein neuer Fernseher, Kleiderstoff und viele Lebensmittelvorräte. Jeder schien Anna erzählen zu wollen, was er oder sie Wunderbares bestellt hatte und gleich bekäme. Was helfen würde, dass der Winter leicht würde. Die Luft schwirrte vor Lachen und dummen Sprüchen.

„Dein neues Gewehr findet die Rentiere alleine!“

„Oh, ein neuer Fernseher, wir ziehen gleich bei dir ein!“

Endlich schob sich die rote Schiffsnase um die Felsspitze in die Bucht. Da draußen war ganz schön viel Wellengang, dachte Anna. Sie lachte mit den Menschen, die um sie herum schrien und jubelten. Für sie, Anna, hatte das Schiff ein dickes Paket Bücher am Bord. Das erzählte sie lieber nicht, sie erzählte nur von ihrem neuen Herd, der ihr in Wahrheit egal war. Heiße Suppe und Nudeln taten es auch und die konnte sie auch auf dem Campingkocher zubereiten. „Aber …“ Das Schiff kam nicht näher. Erneq war neben ihr aufgetaucht. „Es ist zu viel Welle. Es wäre zu gefährlich, näher an die Küste zu kommen.“ „Aber …“ Das konnte doch nicht funktionieren. Erneq lachte über Annas fassungslosen Blick. „Das schaffen wir schon, du wirst sehen!“

Wenigstens hatte Brugsen, der Einkaufsladen für Alles, einen Traktor, der jetzt zum Hafen fuhr, auch die kleinen Fischerboote starteten und fuhren hinaus zum Postschiff. Mit den Händen vor dem Mund stand Anna und beobachtete, wie das erste sperrige Gerät mit einer schiffseigenen Winde über Bord gehoben und in ein winziges Boot hinuntergelassen wurde.

Dann gab es keine Zeit mehr zu denken. Anna wuchtete Kisten, packte Dosen in Kinderwägen und schob sie zu einem Haus. Ihr Körper schmerzte, aber immer noch kamen neue Kisten und Pakete, eine Flut von Waren.

Eine Frau drückte ihr einen Becher Kaffee in die Hand, betastete ihren Bizeps und meinte: „Gut!“

Anna hörte die Schiffssirene, aber sie konnte nicht aufschauen, sie half gerade, eine große, schwere Kiste auf einer Art Rollwagen festzuhalten, der halb so breit war wie das schwere Monstrum. Bloß jetzt nicht stolpern. Ihre Füße konnte Anna nicht sehen. Dann war das Monstrum abgeliefert. Als Anna sich umdrehte und den Berg hinunterlief, war das Schiff schon wieder verschwunden. Noch zwei, drei Fuhren, dann waren auch die kleinen Fischerboote entladen und wieder am Ufer vertäut. Eine Frau weinte, weil der Fernsehapparat, den sie bestellt hatte, nicht dabei war. Die Männer lachten und schlugen sich auf die Schultern. Keine einzige Ladung war im Wasser gelandet, hörte Anna. Unglaublich sei das. Jemand verteilte Mattaq, Walfischhaut, eine Delikatesse, alle stießen miteinander an. Anna dachte, dass sie neuen Respekt hatte vor den Menschen, mit wie viel Kraft und wie viel Geschicklichkeit sie die winzigen Boote be- und wieder entladen hatten. Und wie sie alle zusammen geholfen hatten. Sogar Ateq, der alte Säufer, war mit Kisten und Tüten den Berg hochgestolpert. Überall sah sie strahlende Gesichter, wurde herzlich zum Essen eingeladen. Ich muss erst mal bei mir aufräumen, dachte sie. Ob ihr Herd da war? Und ihre Bücher? Sie hatte das gar nicht mitbekommen. Hoffentlich waren die Bücher da. Erneq kam noch einmal zu ihr. Er sah sehr ernst aus. „Anna, heute schließt du ab und verriegelst auch die Fenster im Parterre. Und was immer du draußen hörst an Schreien, Weinen, Schießen, du gehst nicht nach draußen, okay?“ Sie versprach es ihm, jäh ernüchtert. Langsam ging sie zum Haus. Fassungslos schaute sie auf den Stapel Kisten. Hatten sie wirklich so viel Kram bestellt? Der Herd war jedenfalls da. Sorgfältig verschloss Anna die Tür und die Fenster. Dann schob sie die Kisten in der Küche hin und her, nahm jedes Paket in die Hand, bis sie ihre Bücher gefunden hatte. Mit den Büchern, der Dachkammer und der Biwakschachtel würde sie alles packen, den Winter und auch die kommende Nacht, dachte sie.

Min arktiske barndom – „Meine Kindheit in der Arktis“ – suchte sie sich heraus. Anna kochte sich Spaghetti und kuschelte sich dann auf der Matratze ein, saß bequem mit einem Polster im Rücken an die Wand gelehnt.

Sie erstarrte, als die ersten Schläge an die Tür donnerten. Jemand schien sie zum Essen einladen zu wollen. Immer wieder ein neuer Jemand oder der gleiche? Oder war das Ateq? Ein Stein flog durch die Scheibe. Scherben klirrten, gefolgt von wildem Gegröle. Anna schleppte die Matratze in den ersten Stock und versuchte sich ganz leise zu bewegen.

Das war jetzt eindeutig Ateq, der schrie und dann offensichtlich stürzte. Was, wenn er nun vor ihrer Haustür erfror oder verblutete? Aber sie hatte versprochen, nicht nach draußen zu gehen, und sie hatte auch viel zu viel Angst. Die Hölle da draußen schien überhaupt kein Ende zu nehmen. Immer wieder neue Stimmen, neue Steine wohl auch. Inzwischen zitterte Anna. Es war eisig kalt hier oben ohne Ofen. Sie konnte nur hoffen, dass niemand es schaffte, die Tür oder ein Fenster aufzubrechen.

Dabei war sie vollkommen erschöpft. Aber jedes Mal, wenn sie gerade eingeschlafen war, kam eine neue Welle von Geschrei und Geklopfe. Würden diese freundlichen, hilfsbereiten Menschen ihr wirklich etwas tun? Anna hatte sich noch nie so hilflos gefühlt.

Leseprobe 2 S. 233 Anna findet Illuat

Was würde sie in Qeqisillit vorfinden? Anna machte sich Sorgen, schob aber dann die Gedanken weg. Der Schnee war trocken und fest. Bergab lief es sich mit den Schneeschuhen ohne jede Anstrengung. Schön war das. Jedenfalls brachte sie jede Menge Kraft aus dem Biwak mit, um die Schwierigkeiten anzugehen. Sie wachte aus ihrer Träumerei auf, weil ihr Hund Röver sich plötzlich anspannte. Ein Eisbär? Anna griff nach dem Gewehr. Das war nicht gut, sich so in Gedanken zu verlieren. Sie sah sich um. Es war so weiß, dass die Konturen verschwammen. Der Eisbär konnte ganz nah sein, sie entdeckte ihn immer noch nicht. Nein, beruhigte sie sich. Wäre der Eisbär nahe, würde Röver anders reagieren. Ganz langsam lief sie weiter, schaute sich immer wieder um. Dann entdeckte sie, was Röver fixierte. Schräg vorne, etwas oberhalb am Hang, etwas Buntes, kein Eisbär. Das konnte nicht gefährlich sein. Bunt hieß etwas Menschliches. Müll? Aber dafür war Röver zu angespannt.

Anna lief vorsichtig darauf zu. Da lag ein Mensch. Sie begann zu rennen, so gut das mit den Schneeschuhen ging. Illuat war das, begriff sie, der da im Schnee lag. Er wimmerte, als sie ihn an der Schulter fasste, er war nicht tot. Sein linkes Bein stand in merkwürdigem Winkel ab. Er war wohl vom Schlitten gefallen, sein Gespann war weg. Er konnte noch nicht lange hier liegen. Er war kalt, aber weder im Gesicht noch an den Händen gab es Erfrierungszeichen.

Hastig löste Anna die Verschnürungen, mit der ihr Gepäck auf der Pulka fixiert war. Sie holte ihren Biwaksack, den Schlafsack und die Isomatte heraus. Schnaufend vor Anstrengung hob sie Illuat, der vor Schmerz brüllte, so vorsichtig sie konnte auf die Isomatte, legte den Schlafsack über ihn und schob ihn dann samt der Matte in den Biwaksack. Dabei hielt sie vorsichtig das Bein, um es nicht zu bewegen. Es schien kein offener Bruch zu sein, Anna sah kein Blut. Sie entschied, damit keine Zeit zu verlieren, sondern deckte das Bein nur mit ihrer restlichen Kleidung zu, um es warm zu halten. Illuat war bei Bewusstsein. Deshalb versuchte sie, ihm heißen Tee einzuflößen, um ihn aufzuwärmen, aber das misslang. Illuat jammerte und schnappte nach Luft.

Anna grub eine Vertiefung in den Schnee und legte ihre Skistöcke, nachdem sie eine Leine daran befestigt hatte, quer als Schneeanker ein, und füllte anschließend die Rinne wieder mit Schnee auf. Sie sprang mit ihren Schneeschuhen darauf herum, um den Schnee festzutrampeln und hoffte, dass das halten würde. Sie band Röver mit einer langen Leine am Schneeanker fest. Wahrscheinlich verstand der Hund sowieso, dass er hier bleiben und Illuat beschützen müsste. Falls doch ein Eisbär käme.

Illuat atmete keuchend. Der Mann brachte sich noch um mit seiner Panik, dachte sie. Ihr schien, er wurde langsam blau im Gesicht.

Sie musste ihn irgendwie beruhigen. Anna zog ihre Schneeschuhe aus und kroch zu Illuat in den Biwaksack. Sie rieb sich ihre Hände warm und legte sie auf sein Bein. Illuat schrie auf. Anna begann zu singen. „Viel Glück und viel Segen“, etwas Besseres fiel ihr gerade nicht ein, aber er verstand sowieso kein Deutsch. Sie sang, dann legte sie ihm die Hand auf den Bauch und sang weiter. Sein Atem beruhigte sich. Er sah sie mit großen Augen an.

„Hjaelp! Ich hole Hilfe!“, sagte sie. „En time, eine Stunde!“ Dann fügte sie hinzu: „Gut atmen!“ und machte ihm vor, wie er ganz langsam ausatmen sollte. Iluat nickte. Nun sah er sie an, wie ein kleines Kind, fand sie. Jetzt erst nahm sie den Alkoholgestank wahr. Anna stand auf. Sie wies Röver noch einmal an, „Sitz! Du musst auf Illuat aufpassen!“ Dann zog sie ihre Schneeschuhe wieder an und stakste ins Tal. Sie sah sich nicht um. Röver schien verstanden zu haben, dass er ihr nicht folgen durfte.

Es war mühsam, ohne Stöcke zu laufen, aber es ging schon. Anna lief so schnell sie konnte. Nach vierzig Minuten war sie dort, wo die Schneestraße begann, nach einer knappen Stunde erreichte sie die Polizeistation.

Der Beamte, – Jan der so freundlich gewesen war, hatte gerade keinen Dienst – sah sie missbilligend an, als sie hineinstürmte. „Ein Eisbär?“ fragte er. Er durchbohrte sie geradezu mit seinen finsteren Blicken. Sie sollte verstehen, verstand sie, was für eine Belastung sie für das Dorf war.

Anna schüttelte den Kopf. „Illuat!“, sagte sie. Sie merkte, dass der Beamte ihr Dänisch nicht verstand. Deshalb versuchte sie, gestisch zu zeigen, dass sein Bein gebrochen war. Auf der Karte, die an der Wand hing, deutete sie auf den Ort, an dem Illuat lag. Der Mann musterte sie noch einmal, dann rannte er los. Kurz darauf konnte Anna den offiziellen und einzigen Schneeskooter des Dorfes hören – hier hoch im Norden waren nur Hundeschlitten erlaubt. Er raste davon, hielt kurz, vermutlich um die Krankenschwester zu holen und jagte dann den Berg hinauf. Anna ging langsam zu Piet. Sie brauchte schließlich ihre Pulka und ihre Ausrüstung, aber die Männer würden sich sicher ärgern, wenn sie jetzt alleine und ohne Röver, wieder den Berg hinauf wanderte. Piet hörte kurz zu. „Geh nach Hause“, sagte er dann. „Ich hole Röver und deine Sachen!“ Na gut. Anna ging nach Hause. Ohnehin konnte sie sehen, dass das Wetter sich verschlechterte. In einem Schneesturm wollte sie nicht unterwegs sein, vor allem nicht ohne Biwak- und Schlafsack. Einen Moment sorgte sie sich, dass die Männer nun ihre Ausrüstung vernichten würden, um sie zu zwingen, im Dorf zu bleiben. Aber das konnte sie dann auch nicht ändern.

Als sie in der Küche saß, war sie plötzlich froh. Nun war sie nicht nur nichtsnutzig, sondern hatte dem Dorf einen Dienst erwiesen. Die Chancen, dass jemand anderes Illuat rechtzeitig gefunden hätte, waren nicht groß. Auf dem Weg zum Haus hatte Anna gesehen, dass Illuats Hunde ganz normal an ihrem Platz lagen. Und man musste schon genau schauen, um zu sehen, dass sie nicht angekettet waren. Was wohl aus seinem Schlitten geworden war? Die Männer hatten Illuat geholt, der nun wohl mit einem Gipsbein ruhig gestellt war. Anna hatte ihn noch nicht wieder gesehen. Piet hatte bloß gemeint: „Gut, dass du Iluat gefunden hast“. Ihre Ausrüstung hatte Anna auch zurück bekommen. Es war wunderbar still im Haus.

Birgitta schien immer nur kurz und singend durchs Haus zu tanzen, dann war sie weg. Bei Erneq zum Schnitzen, im Heim fürs WingTsun Training oder mit dem Hundeschlitten unterwegs.

Niemand von den Dorfbewohnern kam zum Kaffemik und Anna genoss die ungewohnte Ruhe. Es dauerte ein bisschen, bis sie merkte, dass die Inuit ihr aus dem Weg gingen. Die Entgegenkommenden verschwanden unvermittelt in Hauseingängen, der Supermarkt wurde immer gerade leer, wenn sie kam. Stutzig wurde sie, als Ateq seine Axt weg legte und im Haus verschwand, als sie kam, ohne zu schreien, ohne Krach zu machen. Gar nichts. Aber warum? „Warum?“, fragte Anna beim Abendessen die Freundinnen. Birgitta war überrascht. „Wieso?“Ich finde die Atmosphäre gerade ganz entspannt!“ Brummend stieß Ute ihren Stuhl zurück und holte sich noch eine Portion Spaghetti. „Was musstest du auch so einen Hexenzauber veranstalten! Da hast du dich wohl cool gefühlt! Frau Superschlau!“ Birgitta schaute verblüfft von einer zu anderen. „Was ist denn hier schon wieder los?“ „Ute, ich verstehe nicht, was du meinst. Kannst du mir das bitte erklären? Was soll das heißen?“, fragte Anna betont ruhig. „Die Jugendlichen sagen, Illuat erzählt überall, du hast ihn gerettet, du hattest plötzlich einen Rabenkopf auf und hast einen großen schamanischen Zauber veranstaltet und Simsalabim alle Schmerzen weggezaubert!“ „Nein!“ Anna ließ den Kopf auf die Hände sinken.

„Mein Gott! Das hier geht mir richtig auf die Nerven! Der Mann war halb verrückt vor Angst und Schmerzen und hat hyperventiliert und ich habe gesungen, um ihn zu beruhigen!“ „Du hast wie ein Rabe gekrächzt und ein heiliges Lied gesungen! Eine große Show abgezogen“, sagte Ute zähneknirschend. „Als hätten wir nicht schon Probleme genug!“ „Was hast du gesungen?“, frage Birgitta ungläubig Anna seufzte. „Mir ist nichts eingefallen. ‚Viel Glück und viel Segen‘ habe ich gesungen.“ Birgitta starrte sie an. „Viel Glück und…?“ Plötzlich brach sie in Gelächter aus und riss Anna mit. Die beiden Frauen lachten hysterisch und konnten sich nicht mehr beruhigen. Ärgerlich schob Ute ihren Stuhl zurück und verließ die Küche. „Komm morgen mit zu Erneq“, schlug Birgitta schließlich vor. „Er kann uns sicher am besten sagen, wie wir mit der Situation umgehen!“ Anna nickte. „Gute Idee!“ Sie hatten sich einen Tee gekocht, als Ute zurück in die Küche kam. „Seid ihr wieder normal?“ Anna schob ihr eine Tasse hin. „Tee?“ „Wie soll ich euch denn respektieren, wenn ihr ständig solchen Quatsch macht, alle gegen euch aufbringt?“ Sie sahen sich an. Birgitta wollte schon aufbrausen, aber dann spürte sie, dass Ute es ernst meinte, dass das wirklich eine Frage war.

„Ute“, fing Birgitta an. „Wir sind unterschiedliche, unterschiedlich verletzte, starke, eigensinnige Frauen, die immer Freiheit und ihren eigenen Weg wollten. Freiheit! Du auch. Denk doch nur an die Anfangszeit mit deinem Mütterprojekt! Was bist du beschimpft worden! Oder wir drei als junge Frauen mit dem Motorrad. Da sind wir oft als Hexen bezeichnet worden. Hast du das vergessen?“ Ute zuckte zusammen und warf Anna einen Blick zu. Aber sie blieb sitzen, wie Anna erleichtert feststellte. Anna sagte: „In meinen Augen war das einfach nur vernünftig: einen Menschen, der panisch war, zu beruhigen. Und hier ist das eine andere Kultur und wird das anders verstanden. Mal wieder eine neue Falle, in die ich gestolpert bin! Birgitta und ich haben gerade besprochen, dass wir morgen zu Erneq gehen und ihn fragen, wie wir damit umgehen sollen.“ „Im Moment finde ich alles nur schräg und schrecklich, was ihr tut und ich schäme mich!“ „Aber Ute, wir waren schon immer total verschieden!“ „Ich will unsere Freundschaft nicht kaputt machen, aber ich finde euch furchtbar!“ „Das ist doch ein guter Satz!“, sagte Birgitta. „Aber das muss doch alles nicht sein! Ihr müsst doch auch mal Kritik annehmen und euch hier anpassen!“ „Ich passe mich an, aber ich kann kein anderer Mensch werden. Und ich muss nicht allen Inuit alles recht machen!“, sagte Anna und klang plötzlich sehr entschieden. Birgitta seufzte. „Ja, aber…“ Sie lachte und wurde dann wieder ernst. „Manchmal finden wir etwas furchtbar, aber es nutzt halt nichts. Ich finde zum Beispiel furchtbar, dass du so depressiv bist, Ute! Das nutzt mir auch nichts.“ Anna sah sie erschrocken an. Ute presste bloß die Lippen aufeinander.

„Ihr macht es mir jedenfalls hier noch schwerer“, sagte Ute. Es klang trotzig aber auch ein bisschen unsicher, fand Anna. Sie schüttelte unmerklich den Kopf und Birgitta hielt den Mund.

„Dann spielen wir eben Halma, wenn ihr das so toll findet!“, sagte Ute nach einer Weile.

Leseprobe 3 S. 261 Die Sonne – Ute s 261 Waren das wirklich alle? War es das ganze Dorf? Ute konnte es nicht glauben. Eine lange bunte Schlange Menschen stapfte durch den Schnee bergauf, auf dem sich eine dünne Eisschicht gebildet hatte. Jeder Schritt krachte und knirschte. Liv hatte sich an Utes Hand geklammert. „Aber sie kommt doch? Sie kommt doch bestimmt!“ Ute versicherte ein ums andere Mal. „Ja, die Sonne kommt! Sie kommt jedes Jahr wieder!“ Trotzdem lag eine merkwürdige Spannung in der Luft. Als ob alle Angst hätten, die Sonne würde dieses Jahr entscheiden, einfach mal nicht wieder aufzutauchen. Die Jugendlichen waren erstaunlich brav. Keiner machte Quatsch.

Die Alten und Versehrten wurden auf Hundeschlitten auf den Hügel gebracht. Ute sah, dass Birgitta, Kituva und Nuka Ateq auf ihrem Schlitten nach oben transportierten. Wenn der alte Säufer nicht laufen konnte, hatte er eben Pech gehabt, dachte Ute. War das gut, ihn zu pampern? Ute wusste es nicht. Was war bloß in Birgitta gefahren?

Oben war es still. So viele Menschen und ganz still. Alle schwiegen und bewegten sich kaum, obwohl es so entsetzlich kalt war, dachte Ute. Lange würde sie das nicht aushalten. Das Blaugrau waberte. Atemwölkchen vor den Mündern der Menschen. Am Horizont zunehmend leichte Röte.

Aber das wurde doch nichts, dachte Ute. Die Röte schien wieder schwächer zu werden. Die Wetter-Apostel mussten sich verrechnet haben.

Es war so kalt. Sie würde hier noch ersticken. Atmeten die Menschen um sie herum überhaupt noch?

Und dann war sie da. Es war nicht viel Sonne. Vielleicht ein Sechstel Sonnenscheibe, blass-rot-gelb, die sich über den Horizont schob. Ute starrte. Und das schwache hässliche Ding sollte die Sonne sein, die ihren Garten zum Blühen brachte?

Plötzlich brauste es rund um sie auf, anders konnte sie das nicht nennen. Ute zuckte zusammen. Es war der Kirchenchor. Gewaltig, mächtig, erst feierlich, zunehmend jubilierend tönten die Stimmen über den Berg. Staunend sah Ute, dass Birgitta und Anna weinten. Das ganze Dorf schien zu weinen. Überall Tränen. Hatte Ute Birgitta jemals weinen gesehen? Ute erinnerte es nicht. Jetzt wurde der Gesang noch lauter, aber weniger schön. Nun stimmte wohl das ganze Dorf ein. Ute konnte Ateqs gellendes Krächzen heraus hören.

Und da war sie schon wieder weg, die tolle Sonne. Was für ein Zinnober! Und gleichzeitig fragte sich Ute, warum sie das hier nicht einfach genießen konnte, wie der Rest der Menschheit. Auf einmal kam Bewegung in die Menge. Alles umarmte, quetschte, drückte, küsste sich. Die Jugendlichen klebten an ihr. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass auch Anna und Birgitta sich anfassen und küssen ließen. Das gab es doch gar nicht. Und Birgitta fiel nicht um. Sie lachte und küsste auch.

Nun kamen Anna und Birgitta her gelaufen und hielten sich zu dritt im Arm, drückten und küssten Ute. Krass war das, krass, so krass. Aber jetzt weinte auch sie, ein bisschen zumindest. Sie würde Erfrierungen kriegen im Gesicht, von den Tropfen auf ihrer Wange.

„Wir haben es geschafft! Wir schaffen es! Die Sonne ist wieder da!“, schrie Birgitta.

Überhaupt schrien jetzt alle. Wo war nun die ganze Heiligkeit hin verschwunden? Nuka warf Akik einen Schneeball, nein, einen Eisball, an den Kopf, dass der blutete und schon lagen die Jungen im Schnee und prügelten sich. Zwei Hundegespanne waren los gerast, wohl ohne ihre Besitzer, und in einander gestürmt. Die Leinen verheddert, die Hunde bellten und bissen um sich wie rasend. Ateq rutschte auf dem Bauch den Hügel hinab. Ute wusste gar nicht, wohin schauen, in all dem Chaos. Dabei waren sie noch nüchtern. Heute würde wohl wieder so eine Nacht werden, wo es wichtig war, alle Türen und Fenster zu verrammeln. Zögernd folgte Ute den anderen bergab, zurück ins Dorf. Himmel war dieser überfrorene Schnee glatt! Ute stürzte drei Mal, bis sie im Dorf angekommen war.

Nun würde überall Kaffeemik sein. Sie selbst hatte ja auch Kuchen gebacken für die Gäste.